In diversen Foren – hauptsächlich im Kidmed-Forum – sind mir schon viele Fragen zur HNO-Medizin gestellt worden. In Foren beantworte ich die Fragen unter dem Namen „wovapa“ (Wolfgang Vahle, Paderborn). In unregelmäßiger Folge werde ich einige Fragen und meine Antworten – bearbeitet und ergänzt – in dieser Kolumne veröffentlichen.
Frage:
bei meiner fast 4 jährigen Tochter wurde im Kindergarten ein Hörtest durchgeführt.
Ich habe jetzt einen Zettel in die Hand gedrückt bekommen, in welchem steht, dass eine eventuelle Hörminderung am linken Ohr vorliegt. Testergebnis: Linkes Ohr bei 4 kHz und 8 kHz je 40 dB; 6 kHz 45 dB.
Ich möchte gerne wissen, was dieses Ergebnis aussagt. Wie sicher oder unsicher ist dieser Test. Wie wahrscheinlich ist die Möglichkeit einer Hörminderung und vor allem:
Wie gravierend ist diese Hörverminderung?
wovapa:
Bei Screeningtests gibt es „grünes Licht“, wenn bei 40 dB Reizstärke „Antworten“ aus dem Hörsystem aufgezeichnet werden können. Allerdings muss man sagen, dass die objektiven „Antworten“ (also elektrische Spannungsänderungen bei BERA-Untersuchungen) um ca. 10 bis 15 dB schlechter liegen, als die subjektiven. Das heißt, wenn man eine objektive Hörschwelle bei 40 dB misst, dann kann man davon ausgehen, dass die Patienten bei 30 oder 25 dB bereits die Prüftöne tatsächlich hören.
Wenn nun keine objektive, sondern eine subjektive Methode verwendet wurde (also die Kinder tatsächlich gefragt wurden, ob sie einen Ton hören oder nicht), dann kann man diese 10 bis 15 dB natürlich nicht mehr abziehen! Dann wären 40 dB Hörschwelle als geringgradige Hörminderung einzustufen.
Nun ist es ein bekanntes Phänomen, dass die Hörschwellen bei der Hörprüfung umso schlechter liegen, je jünger die Kinder sind. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Kinder oftmals unkonzentriert sind (oder sehr konzentriert, aber auf andere Dinge!). Bei jüngeren Kindern eine schlechtere Hörschwelle zu messen, bedeutet also nicht unbedingt, dass das Kind tatsächlich schlechter hört. Es kann sich auch um eine Messungenauigkeit handeln.
In speziell diesem Fall kommt hinzu, dass Hörminderungen oberhalb 4 kHz und damit außerhalb des Hauptsprachbereiches liegen; das Sprachverstehen wird dadurch nicht dramatisch beeinträchtigt.
Und einen weiteren Gesichtspunkt gibt es noch zu berücksichtigen! Bei allen Screeningtests (also „Such“-Tests) macht man Fehler! Die Fehler sind einkalkuliert! Wenn man in kurzer Zeit sehr viele Kinder testen will, dann kann das nicht ohne Fehler bleiben!
Es gibt zwei Sorten von Fehlern: erstens die „falsch negativen“ und zweitens die „falsch positiven“ Befunde. Bei einem „falsch negativen“ Befund wird ein schwerhöriges Kind fälschlicherweise als normalhörend eingestuft. Das ist katastrophal, weil dann keine weiteren Untersuchungen mehr folgen und man den Fehler erst spät – zu spät! – bemerkt.
Bei einem „falsch positiven“ Ergebnis wird ein normalhörendes Kind fälschlicherweise als schwerhörig eingestuft. Das belastet zwar die Eltern, schadet aber dem Kind nicht! Nicht ein einziges Kind wird allein schon dadurch schwerhörig, indem man es als „schwerhörig“ bezeichnet! Aber bei einem „falsch positiven“ Test folgen weitere Untersuchungen nach – wie jetzt auch im Fall Ihrer Tochter! So kann es also gut sein, dass bei der genauen Nachprüfung durch den HNO-Arzt festgestellt wird, dass Ihre Tochter überhaupt nicht schwerhörig ist!
Da man also bei Screeningtests notwendigerweise Fehler macht und die „falsch negativen“ Befunde schlechter sind als die „falsch positiven“, sind die Screeningtests so konzipiert, dass die „falsch positiven“ Ergebnisse häufig vorkommen und die „falsch negativen“ nach Möglichkeit überhaupt nicht.
Umgekehrt heißt dass, dass man bei einem „positiven“ Befund (der also schlecht ist für die Patienten, weil er eine Schwerhörigkeit signalisiert) nicht wissen kann, ob das Ergebnis „echt positiv“ oder „falsch positiv“ ist! Da es gottlob nur wenige schwerhörige Kinder gibt, ist die Zahl der „falsch positiven“ Testergebnisse viel höher als die Zahl der „echt positiven“ Testergebnisse! Die Wahrscheinlichkeit für ein „falsch positives“ Ergebnis ist durchaus hoch!
Das heißt wiederum, dass Sie sich zunächst mal keine Sorgen machen sollten!
Wenn Sie aber auf die Idee kommen sollten, aufgrund meiner Ausführungen die Nachuntersuchungen beim HNO-Arzt abzusagen, dann muss ich Sie davor warnen! Es gibt einen Grundsatz (zur Sicherheit für die Kinder!), der besagt: „Jedes Kind gilt solange als schwerhörig, bis das Gegenteil bewiesen ist!“
Eine übersehene und nicht diagnostizierte Schwerhörigkeit beeinträchtigt die Entwicklung der Kinder ganz erheblich! Deshalb ist es enorm wichtig, die wirklich schwerhörigen Kinder frühzeitig mit Hörgeräten zu versorgen! Wir HNO-Ärzte wissen, dass etwa eines von 1000 Kindern schwerhörig auf die Welt kommt. Und diese Kinder müssen frühzeitig gefunden werden, damit sie versorgt werden können!
Der Preis dafür ist, dass viel mehr als dieses eine von 1000 Kindern in den Verdacht geraten, schwerhörig zu sein!
Die Screeningtests sind so konzipiert, dass die als „normalhörend“ bezeichneten Kinder tatsächlich praktisch alle wirklich normalhörend sind. Und von den als „schwerhörig“ bezeichneten Kindern sind vielleicht 1 bis 2 Prozent wirklich schwerhörig; die anderen 98 % bis 99 % sind trotzdem „normalhörend“.
Aber noch mal ganz deutlich: nur eine genaue Kontrolle ist in der Lage zu entscheiden, ob das positive Screeningergebnis „echt positiv“ oder „falsch positiv“ ist. Sie sollten also keinesfalls auf diese Kontrolle beim HNO-Arzt verzichten! Sie können allerdings bis zum Endergebnis gelassen bleiben!